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gespräch am küchentisch #1

definitionsmacht und verschränkungen verschiedener diskriminierungen

Ann Wiesental und Anni von rave*awareness aus Berlin sitzen häufiger mal gemeinsam am Küchentisch und unterhalten sich zu vielen Fragen rund um das Thema Awareness. Dieses Mal haben sie sich darüber unterhalten, wie mit Situationen umgegangen werden kann, wenn es Konstellationen gibt, in denen mehrere Personen sich voneinander auf unterschiedlichen Ebenen diskriminiert fühlen. Es also kein klares Bild von betroffener und gewaltausübender Person gibt. Wie funktioniert das mit Definitionsmacht dann und wie kann als Awareness-Team damit umgegangen werden? Hier ein Auszug aus unserer Unterhaltung.

Ann:

Ja, Anni, wir sitzen jetzt hier zusammen am Küchentisch und da ist das Thema Verschränkungen aufgekommen. Also Verschränkungen von verschiedenen Machtverhältnissen und Diskriminierungsverhältnissen. Und da sind wir zu der Frage gekommen: Wie läuft das in der Awareness-Praxis? Wie kann das zusammengehen mit Definitionsmacht und Parteilichkeit?

Anni:

Ich habe dir ja gerade zum Beispiel erzählt von dieser Freundin von mir, die damals ihre Bachelor-Arbeit über Awareness geschrieben hat. Sie hat sich mit dem Thema beschäftigt, inwiefern Definitionsmacht funktioniert, wenn es eine Situation gibt in der zwei Personen von Diskriminierung betroffen sind und einander gegenseitig diskriminierendes oder grenzüberschreitendes Verhalten vorwerfen. Sie ist damals zu dem Schluss gekommen, dass Awareness bzw. das Konzept von Definitionsmacht in so einem Fall nicht funktioniert. Auch wenn ich ihre Gedanken nachvollziehen kann, wollte ich mich damit irgendwie nicht zufriedengeben und gleichzeitig ist es in meinem Kopf immer noch oft eine offene Frage, wie mit solchen Situationen gut umgegangen werden kann und was das für die Praxis bedeutet. Kannst du dazu vielleicht ein bisschen aus deiner Erfahrung erzählen?

Ann:

Erstmal finde ich da immer total wichtig, dass Awareness-Teams divers aufgestellt sind und das ist ja leider immer noch ein fettes Manko, dass sie das häufig leider nicht sind. Ich finde wichtig, dass verschiedene Personen mit unterschiedlichen Positionierungen auch Ansprechpersonen finden in Awareness-Crews. Ich denke das erleichtert schon viel, weil dadurch dann unterschiedliches Erfahrungswissen da ist und dadurch auch ein unterschiedliches Verständnis oder die Möglichkeit von Empathie und Hineinversetzen. Und dann in den Fällen, die ich so kenne, wo es Verschränkungen gab und mehrere Diskriminierungsverhältnisse angesprochen waren, fand ich es immer wichtig, dass alle Personen auch parteiliche Personen zur Seite gestellt kriegen. Nicht, dass die Awareness-Crew jetzt denkt, sie spricht erst mit der einen Person und dann mal mit der anderen Person. Also, wenn das ressourcenmäßig oder personell geht, finde ich es total wichtig, dass jede betroffene Person mindestens eine Person an ihrer Seite hat und diese Person ist dann auch nur für diese jeweilige betroffene Person da und ist wirklich emotional parteilich an ihrer Seite. Wie dann aber so unterschiedliche Wünsche, Bedürfnisse oder Verletzungen dann besprochen werden können ist voll unterschiedlich, je nachdem wie das Setting gerade so ist. Ich kann mich aber auch noch daran erinnern, dass das geklappt hat. Zum Beispiel auf der Anti-Lager-Action-Tour, in der Antira-Bewegung. Da hatten wir Ansprechgruppen mit einer Diversität an Positionierungen und da wurde sich auch so getroffen. Also dann haben sich die unterschiedlichen Personen mit ihren Unterstützer:innen gemeinsam getroffen und gegenseitig gesagt, was das Problem ist, was die Verletzung war. Es wurde sich gegenseitig zugehört, es wurden Wünsche geäußert, es wurde Kritik geäußert. Also das wurde dann miteinander verhandelt und besprochen. Was nicht heißen muss, dass das dann immer das richtige Setting ist. Manchmal ist es nicht möglich oder gewünscht, dass die Leute dann wirklich physisch an einen Ort kommen und miteinander sprechen. Aber in solchen Fällen können ja auch Personen vermitteln beispielsweise.

Anni:

Ich finde das einen spannenden Gedanken. Ich glaube das war auch ungefähr der Punkt an dem ich da rausgekommen bin bei meinen Überlegungen. Das ich dachte: „Okay, dann muss es Unterstützung für beide oder alle Beteiligten geben. Da darf es dann nicht sein, dass ein Awareness-Team oder allgemein Außenstehende sich anmaßen zu sagen Person X ist jetzt aber mehr betroffen als Person Y, also eine Hierarchisierug vorzunehmen, die Diskriminierung im Prinzip nochmal reproduziert. Sondern, dass eben beide Perspektiven anerkannt werden und beide Personen eine parteiliche Unterstützung kriegen.“
Und das hat mich dann auch nochmal zu dem Punkt geführt über Definitionsmacht nachzudenken. Ich habe heute nochmal einen alten Text, den ich über Definitionsmacht geschrieben habe, gelesen. Und dann habe ich nochmal einen Satz ergänzt, der mir aus heutiger Perspektive total wichtig ist, nämlich, dass Definitionsmacht für mich nicht bedeutet, dass die Definition einer Person die einzig wahre, absolute Wahrheit ist, aber dass diese Definition eben die Wahrheit der betroffenen Person ist und als solche respektiert werden sollte. Und das wäre ja in der Ausgangssituation, über die wir sprechen, nämlich, dass zwei oder mehrere Personen einander auf verschiedenen Ebenen diskriminiert haben, total wichtig. Dass es da eben zwei Wahrheiten, zwei Perspektiven darauf gibt. Die beide da sind und auch da sein dürfen.

Ann:

Ja, auf jeden Fall. Die Verletzungen sind beide da, das Nicht-gesehen-worden-sein oder nicht-wirkmächtig-sein-können ist auf beiden Seiten da. Und klar ist das dann schwierig, wenn dann Personen was formulieren an eine andere Person, also eine Kritik oder einen Vorwurf oder einen Wunsch und die andere Person, dass dann so gar nicht hören kann oder davon so gar nichts annehmen kann. Das ist dann auch ein schwieriger Punkt. Oder man hat den Eindruck, die andere Person nimmt jetzt gar nichts von meiner Kritik, aber andersrum lasse ich mich darauf ein und sage: „Okay, das und das kann ich auch irgendwie höre und verstehen oder da nehme ich Kritik auch an. Das hatte ich nicht auf dem Schirm. Oder das sehe ich jetzt, dass ich da verletzend gehandelt habe.“ Da geht es dann um Ungerechtigkeitsempfinden, also ich lass mich jetzt ein Stück weit ein auf eine Kritik und bin da auch offen mich selbst zu reflektieren, ich habe aber den Eindruck, dass die andere Person das weniger oder gar nicht tut und dann fühlt es sich irgendwie ungerecht an.

Anni:

Ja, dann kommt ja im Grunde wieder der Punkt von „Ich fühle mich nicht gesehen“.

Ann:

Aber es gibt natürlich trotzdem noch den Wunsch nach Gerechtigkeit. Und das ist ja eine Gerechtigkeit, die man irgendwie bekommen will, auch von außen. Man will ja gesehen und gehört und verstanden werden und wenn das dann nicht so richtig eintritt, bleibt der Gerechtigkeitswunsch unerfüllt. Dann kriegt man das vielleicht von der Unterstützer:in, die man parteilich an der Seite hat, aber man bekommt das nicht von dem Gegenüber, das das ausgelöst hat. 

Anni:

Aber du hattest ja gesagt, dass du mit dieser Herangehensweise auch positive Erfahrungen gemacht hast, oder?

Ann:

Ja genau. Also einmal ganz konkret bei einer Anti-Lager-Action-Tour. Da hatten wir auch eine Awareness-Gruppe, die sehr divers aufgestellt war und auch extra für verschränkte Betroffenheiten. Und ich finde da hat es ganz gut funktioniert. Da haben sich auch gegenseitig Personen kritisiert und angehört und Verletzungen mitgeteilt und darin sind dann ganz gute Dinge passiert. Ich glaube es ist aber auch voll wichtig, dass Personen dann da sind, die mir zur Seite stehen, wo sich das auch ähnlich mächtig anfühlt. Das finde ich häufig auch ein Problem, wenn die Awareness-Teams nicht so divers sind, dass man sich irgendwie ohnmächtiger fühlt der Awareness-Crew gegenüber. Also, dass alle die dann da was mitteilen wollen auch das Gefühl haben, die sind ähnlich wirkmächtig in diesem Austausch. Und das ist natürlich schwer, wenn das oft nicht so hergestellt werden kann. 

Anni:

Macht ja auch wahrscheinlich ganz viel mit Zugänglichkeit. Wie viel Vertrauen setze ich da rein, dass die Personen mich verstehen oder mich ernst nehmen werden?


Und wie das immer so ist bei den Gesprächen am Küchentisch. Wir lernen voneinander entwickeln neue Antworten und gleichzeitig tauchen tausend neue Fragen auf! So ging es mir zumindest als ich dieses Gespräch verschriftlicht habe. Deshalb bleiben wir dran und reden und denken weiter miteinander! Bis zum nächsten Mal!

Autor:in

Ann & Anni

Lesezeit

12 min

Datum

April 7, 2022

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