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Wie wir die Nacht erleben: "Anti-Normen"

Menschen aus Sachsen, die (Mehrfach-)Diskriminierung erfahren müssen, teilen ihre Sicht auf das Nachtleben hier in literarischen Beiträgen und Erfahrungsberichten.

Anti-Normen

von Kira (sie/ihr), Catcalls of Leipzig

CN: Sexualisierung, Cis-Heteronormativität, (sexuelle) Belästigung auf der Straße, Gewalt, Diskriminierung, Umgang mit „Täter*innen“, Alkohol, Drogenkonsum, Rechtsextremismus

 „Ich suche eine Person, die meine Sprache versteht und sie selbst spricht. Eine Person die ohne ein Ausgestoßener zu sein nicht nur einfach die Rechte und Exsistenzrechte der Beiseitegeschobenen hinterfragt, sondern auch den Sinn und Zweck derer, die von sich behaupten normal zu sein.“ - Xavier Dolan 

Ich wünsche mir neue Idole. Ich wünsche mir erneuerte Selbstverständlichkeiten.

 

Die Krise

Bereits als wir noch nicht ganz aus den Kinderkörpern herausgewachsen waren, folgten uns die Blicke und versprachen eine unfreie Zukunft. Die Erwachsenen warnten: „Du sollst nicht mit Fremden mitgehen (…)“. Später wurden die Sätze ersetzt - sie wurden zu Forderungen - : „Zieh nicht dieses an, zieh nicht jenes an (…), geh nicht alleine nach Hause.“ Die Pfiffe und Ausrufe, die uns im Frühling entgegen schreien, hallen bis zum Herbst nach und selbst das dicke Fell des Winters kann uns nicht befreien.

Eingepfercht in die Entscheidung zwischen Mann und Frau, zwischen männlich und weiblich, zwischen attraktiv oder unattraktiv, zwischen aufmüpfig oder unterwürfig, zwischen normal und abnorm. Ob ein Einkauf, beim Supermarkt, ein Ausflug zum See oder ein Spaziergang bei Dämmerung - nichts ist einfach nur beiläufig - kein Alltag frei von Urteil. Kein Alltag ohne die Gefahr mitzudenken, die konkrete Gefahr eines (sexuellen) Übergriffs, eines Gewaltakts oder einer Diskriminierung.

Gefahren, vor denen sich zu schützen nicht möglich erscheint, denn auch dort liegt nicht nur die Verantwortung, sondern auch die Macht bei den Ausführenden. Bei den Täter•innen. Jede Flinta-Person scheint zu jedem Zeitpunkt bereit sein zu müssen dem Würgegriff des Patriarchats gegenüber zu stehen.

Nun gibt es nicht nur in Leipzig, sondern vielerorts, den sogenannten Safer Space. Nicht alle Safer Spaces verdienen diesen Titel, aber in einigen Clubs und Locations scheint es endlich möglich zu sein, Hedonismus und Sicherheit miteinander zu vereinen. Es gibt Flinta Veranstaltungen, auf denen zumindest statistisch die Wahrscheinlichkeit sinkt, Belästigung zu erfahren. Es gibt queere Veranstaltungen, auf denen die Begaffung eigener Selbstverständlichkeiten endlich ein Ende haben könnte. Und es gibt Freund•innenschaften, die das Echo der Erfahrungen vielleicht, irgendwann, übertönen können und, wenn nicht, es zumindest erträglicher machen. 

Die utopisch sicheren Orte sind jedoch nicht frei von der Krise, sie verschwindet nicht, indem ein Club die Regenbogenflagge hisst, ein Awarnessteam durch den Club stolpert und entsprechende Hausregeln gelten. Offene Fragen reihen sich in einer unbeantworteten Kette aneinander:  Wohin mit all den Tätern•innen, wenn wir sie erst einmal alle gecancelt haben? Ja, in der linken Szene und auch in der Techno Szene gab es in den letzten Jahren vermehrt Outcallings, Sanktionen, Hausverbote. Und ja, Täter•innen haben in unseren Clubs, an unseren Decks und auf unseren Bühnen nichts zu suchen! Aber wohin gehen sie und wie viel Kontrolle kann über die Aufarbeitung bestehen? Drängen wir Täter•innen letztlich in Locations ohne Awarenessteams? Ohne feministisches Selbstverständnis? Sie verschwinden nicht, sondern bleiben Teil dieser Gesellschaft - als Lösungen fallen mir nur Kompromisse ein, die ich nicht eingehen möchte.

Nach welchen „neuen“ Kriterien darf eine Person den Club betreten um Täter•innenschaft auszuschließen?  Lehnen wir künftig alles vermeintlich männliche ab? Menschen kann ihr Geschlecht nicht abgelesen werden. Menschen kann Täter•innenschaft nicht abgelesen werden. Dennoch beruht der Einlass in den Club auf einer oberflächlichen Analyse einer individuellen Entscheidung verschiedener Personen, ihres Hintergrunds und ihrer persönlichen Geschichte.

Und ist Konsens und Rausch überhaupt vereinbar?

Wer kann sich unter welchen Umständen sicher fühlen? Die Grenzen von Personen sind divers. Ebenso unterscheiden sich die Umstände, unter welchen sich Personen entfalten können, sicher fühlen oder sicher sind. Selbst wenn Konzepte von Achtsamkeit und Konsens greifen und der Klub für einige Stunden eine Zuflucht verspricht, kehren die Probleme auf dem Heimweg zurück. Manchmal mit lächerlicher Brutalität: Der Verfolger, der sich vom lauten, vorgetäuschten Telefonat nicht abschrecken lässt. Die Faschos in der Bahn. Die besoffene Gruppe, um die Ecke, aus deren kollektivem Maul, bei jedem Vorübergehen, eine Frechheit auf die Straße gerotzt wird.

Unsere Nachrichten sind voll von diesen Berichten, dem Nachhauseweg, seiner Planung, und wie ein Vorfall die längste und schönste Nacht ruinieren kann. Dann ist es wie ein Erwachen aus einem schönen Traum- aber - wann wird er Realität?

 

Die Sichtbarmachung

Teil der Krise ist die Unsichtbarmachung aller Diskriminierungen die über die  Problemlagen weißer cis Frauen hinaus gehen. Ja, sogar der Unsichtbarmachung der bloßen Exsistenz von Personen, die nicht heterosexuell und nicht in das binäre System einzuordnen sind. Die intersektionalen Erfahrungen werden zwar mehr und mehr diskutiert, dabei jedoch weiterhin als Einzelfälle inszeniert. Die Prozesse der Unsichtbarmachung greifen in Klubs, auf der Straße und durch all unsere Institutionen, sie zu benennen ist der erste Schritt.

Ein großer Teil unserer aktivistischen Arbeit ist daher, ALLE Erfahrungen, die uns erreichen, sichtbar zu machen, sie in ihrer Unterschiedlichkeit anzuerkennen, ohne sie dabei zu hierarchisieren. Indem wir die Erfahrungen, die uns zugesendet werden, mit Kreide auf die Straße schreiben, verdeutlichen wir auch die Allgegenwärtigkeit von z.B. gendersprezifischer Diskriminierung. Die Ankreidungen an den Orten des Geschehens können zeigen: Das passiert, jeden Tag, immer, überall.

Wir protestieren und sagen: Das ist falsch, das ist nicht richtig, das wird von uns nicht akzeptiert. Es ist nicht normal, dass uns ein Leben in Diskriminierung bereits anerzogen wird. Es ist nicht normal, dass wir uns fürchten müssen. Es ist nicht normal, dass wir uns schützen müssen. Es ist nicht normal, im Würgegriff des Patriarchats zu leben und sich jeden Tag aufs Neue befreien zu müssen.

Personen sehen die Ankreidungen auf der Straße und die Erfahrungen der Betroffenen finden dadurch einen konkreten Ausdruck, einen Ort. Das zu bekämpfende System wird sichtbar und von der Straße in Haushalte getragen, in Familien und Freund•innenkreise, in Milieus, die die Beiseitegeschobenen allzu oft ignorieren. Erst durch diesen Prozess können Reflektionen und Diskussionen eröffnet werden. Erst durch die Sichtbarkeit ist Vernetzung und eine Selbstermächtigung möglich.

Durch jeden Austausch wird deutlicher, dass wir es mit einem gesellschaftlichen Problem zu tun haben, dass Solidarität das Mindeste ist und dass wir alle die Verantwortung haben, das Patriarchat zu bekämpfen. Wir sind nicht allein. Niemand• soll zurückbleiben.

 

Wir sind Indra und Kira von CatcallsofLpz und dies ist ein Teil unserer Perspektive. Falls ihr einen (sexuellen) Übergriff in Leipzig erlebt habt, schreibt uns gerne auf Instagram unter @catcallsofLpz oder per e-Mail unter CatcallsofLpz@gmail.com und wir kreiden diesen am Ort des Geschehens an und posten es anonymisiert.

 

 

Steckbrief

 

Über mich: Ich bin freischaffende Künstlerin, Performerin und Autorin in Leipzig. Vor meinem Umzug nach Leipzig war ich viele Jahre im Horstklub in Kreuzlingen aktiv. Ich habe schon ein paar Veranstaltungen in Leipzig mitorganisiert und bin in unterschiedlichen Locations aufgetreten, darunter Mjut, Werk 2 und Ilses Erika. Bei CatcallsofLpz bin ich seit Beginn, also 2020, im Kernteam mit dabei - unsere Gruppe und Arbeit bedeutet mir unsagbar viel und hat mir sehr viel Kraft gegeben. Eines der schönsten Komplimente die ich je bekommen habe ist: Du beherrscht den perfekten Spagat zwischen Avangard und Kitsch. Ich bin chaotisch, wütend, zart und radikal.

Mein*e Lieblingsartist*in:

Ein•e Lieblingsartist•in? Unmöglich! Von frühem Punk bis zu Dark Wave, von Art-Pop bis Techno über Hip-Hop ist einiges dabei.

The Knife, Tooth Paint, FKA Twigs, Tocotronic, Hildegard Knef, Joy Division, the Paranoyds, Soko und Kraftwerk - fasst es wohl am besten zusammen.

Ich geh niemals feiern ohne:

Standart: Sonnenbrille, Drehzeug, Handy, Schlüssel, Maske, Taschenalarm (vergesse aber auch gerne mal was davon)

Eine gelungende Nacht ist für mich:

- Ein Awareness Team!

- Wenig Macker: Ein angenehmes Publikum, mit dem ich mich sicher fühle und es bin.

- Wenn die Musik abwechslungsreich, zeitlich gut abgestimmt ist und mir gefällt (viel Tanzen)

- Wenn es Raum für verschiedene Gemütszustände gibt: eine schöne Tanzfläche, vielleicht weitere Stages mit anderer Ausstrahlung, Sitzmöglichkeiten, Nischen etc.

- Billige Drinks (optional)

- wenn ich charmante Momente mit mir und anderen mir nahestehenden Personen hatte

- wenn ich mit einem warmen Gefühl oder etwas aufgekratzt nach Hause gehe.

- Manchmal reicht auch nur ein ranziges Abenteuer

Meine Lieblingslocation oder Veranstaltung in Sachsen: E4, Unterschall, Hunger

Instagram: @catcallsofLpz@Zyklotronfrequenz@abgruende_

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"Wie wir die Nacht erleben" schreibt Geschichten, Eindrücke und Erfahrungen von Menschen mit diversen und intersektionalen Perspektiven aus dem Nachtleben. Das Nacht- bzw. Veranstaltungsleben kann sich dadurch auszeichnen, dass es ausgelassen, berauschend, verbindend, befreiend und vernetzend ist. Aber es kann auch ausschließend, diskriminierend und schmerzhaft sein. Mit diesen Erfahrungen gehen Menschen unterschiedlich um. Sie entwickeln (empowernde) Strategien oder müssen Konsequenzen für sich ziehen. Viele sind überzeugt, dass "so etwas" auf den eigenen Veranstaltungen nicht passiert. Doch diese vermeintlich individuellen Erfahrungen ziehen sich strukturell durch unsere Gesellschaft und sind auch im Veranstaltungskontext verankert.
Menschen, die (Mehrfach-)Diskriminierung erfahren müssen, teilen ihre Sicht auf das Nachtleben hier in literarischen Beiträgen und Erfahrungsberichten. Es sind vielschichtige Stimmen, die sichtbar und hörbar gemacht werden: Empowernd, wütend, über Gewalt und den einhergehenden Schmerz berichtend, sehnsüchtig, traurig, frei, laut und leise, hart und weich.
9 Autor*innen und/oder Künstler*innensind an dem Zine beteiligt. Wir haben sie gefragt, wie für sie eine gelungene Nacht aussieht, wann sie sich safe und stark fühlen. Aber auch, wie ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt oder Diskriminierung sind.
Sie sind Teil des sächsischen Nachtlebens - ob als Besuchende, Awareness, Security, Artists oder Organisator*innen. Am Tage und während der Nacht engagieren sich viele von ihnen gegen Diskriminierung. Manche von ihnen bleiben anonym, einige stellen sich unter ihren Beiträgen vor. Vielen Dank für eure Offenheit, euren Mut und eure Arbeit!
In Teilen werden in den Beiträgen kontroverse und komplexe Themen angesprochen. Dies geschieht sehr subjektiv und teilweise verkürzt, aber eben der erlebten Erfahrung entsprechend. Als Herausgeber*innen sehen wir es als unsere Aufgabe, diese Berichte unzensiert und ungefiltert  so stehen zu lassen, wie sie sind, und finden es wichtig, auch Kontroversen und Diskussionen Raum zu geben.
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Autor:in

Kira (sie/ihr), Catcalls of Leipzig

Lesezeit

8 min

Datum

November 4, 2022

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