< zurück

Wie wir die Nacht erleben: „In den Adern Lava, ich will spüren, dass ich da war!“

Menschen aus Sachsen, die (Mehrfach-)Diskriminierung erfahren müssen, teilen ihre Sicht auf das Nachtleben hier in literarischen Beiträgen und Erfahrungsberichten.

„In den Adern Lava, ich will spüren, dass ich da war!“ (Casper)

von Jennifer Sonntag (she/her)

CN: Ableismus, Diskriminierung von blinden Personen, Gewalt, Angst, Tod, Rechtsextremismus, Sozialchauvinismus/Punker*innenfeindlichkeit, Bewusstlosigkeit, Sanitäter*innen, Panikattacke, Pogo

 

Ich war junge Punkerin und gerade dabei zu erblinden. Da ich sehr schlecht sehen konnte, kämpfte ich mich bei geliebten Konzerten immer ziemlich weit nach vorn, um die Bühne besser erkennen zu können. Für ein sehbehindertes Mädchen war das gerade auf Punk-Konzerten heikel. Bei „Den toten Hosen“ pogten mich ein paar Typen so heftig an, dass ich als junges dürres Ding nicht standhalten konnte. Einer sprang mir plötzlich auf den Rücken. Ich hatte meine Freundin längst verloren, alle schlugen und traten wild um sich, ich konnte mich nicht mehr freihüpfen und  weil ich so wenig sah, kam ich aus diesem Szenario einfach nicht heraus. Es riss mich nach unten, das war wie Ertrinken. Die „ungeschriebenen Regeln“ des Moshpits hatten diese Jungs damals wohl noch nicht so gut drauf. Irgendwann klammerte ich dann an einem Absperrzaun und habe mich vor Luftnot fast übergeben. Kurz darauf hörte ich, dass ein Mädchen bei einem Hosen-Konzert in den Massen zu Tode gekommen war. Ich konnte mir plötzlich gut vorstellen, wie das im Geschubse und Gedränge passieren kann und habe heute noch manchmal Angst vor Kontrollverlust bei Konzerten. Das liegt sicher auch daran, dass ich inzwischen völlig erblindet bin. Eigentlich stehe ich total drauf, wenn die Leute zur Musik ausrasten, solange man aufeinander achtet und niemand zertrampelt wird. Ich erlebte aber auch oft Solidarität. Bei einem anderen Konzert tippte mir ein Mädchen immer wieder auf die Schulter, weil sie sah, dass ich gleich abklappen würde. Das ist dann auch passiert. Man reichte mich dann recht fix über die Köpfe der Fans zu den Sanis durch, woran ich mich aber nicht erinnern kann. Als ich wieder zu mir kam, durfte ich dann den Rest des Konzerts mit einer Sanitäterin zusammen anschauen und sie war total fürsorglich. Ein Problem war manchmal der Hin- und Rückweg, denn im Dunkeln als offensichtliche Punkerin in einer Stadt unterwegs zu sein, in der es auch Nazis gab, das war schon ohne Sehbehinderung gewagt. Ich konnte im Dunkeln besonders schlecht sehen und besonders schlecht weglaufen.

 

Während ich von der Punk- in die Gothic-Szene überglitt, verschlechterte sich mein Sehvermögen zunehmend. Ich liebte Konzerte nach wie vor, litt aber gerade am Anfang meiner Erblindung sehr darunter, das Bühnengeschehen nun nicht mehr sehen zu können. Meine anderen Sinne mussten mithelfen. Ich fuhr regelmäßig aufs Wave-Gotik-Treffen nach Leipzig, atmete den Duft der Szene ein, erkundete die Märkte und Messen mit aufmerksamen Fingerspitzen, traf gefeierte Bands und schüttelte ihnen die Hände, das waren gefühlte Autogrammkarten. Als Szenemensch lernte ich im Laufe der Jahre viele Locations kennen, Musiker*innen und Bands gehörten bald zu meinem Freundeskreis. Mein heutiger Partner war Keyboarder meiner damaligen Lieblingsband. Er zeigte meinen Händen den Bühnenaufbau, den Backstage, das Merchandise und das ganze lebendige Drumherum. Das Problem war nur, dass ich während des Konzerts manchmal ohne Begleitperson blieb, weil er ja selbst auf der Bühne stand und auch mit auf- und abbaute. Liebe Freundinnen wollte ich nicht als Dauerbegleitung überstrapazieren. Je weniger ich sah, umso schlechter fand ich mich allein in den lauten Clubs zurecht. Ich erinnere mich an eine heftige Panikattacke während eines Soundchecks, weil ich nicht selber mal eben an die frische Luft gehen und meine Ohren entlasten konnte. Besonders traurig war ich, wenn ich zuhause bleiben musste, weil ich für den Abend keine Begleitung hatte. Mein Freund fuhr allein zu seinem Auftritt. Ich wollte so gern dabei sein und heulte Krokodilstränen in mein Kopfkissen. Heute würde ich versuchen, über die Initiative „Inklusion muss laut sein“ Unterstützung zu bekommen. Hier wäre interessant zu erleben, wie schnell man zu einem zunächst fremden Menschen blindes Vertrauen aufbauen kann. Würde sich ein Mann bereit erklären, müsste er mich z.B. dann ja auch zum Klo bringen während des Abends. Aber generell habe ich in den kleinen Locations bei den Veranstaltenden viel Offenheit erlebt. Hier war die Flexibilität oft groß, wenn es darum ging, spontane Absprachen z.B. bezüglich eines Sitzplatzes für mich zu treffen. Ableismus habe ich manchmal erfahren, wenn andere mich bei Begrüßungen ausließen oder mich nur ansprachen, wenn mein Partner dabei war. In einem Szeneforum wurde ich von einigen User*innen ganz schön durchgemobbt, weil man sich nicht vorstellen konnte, dass eine blinde Frau wirklich Literatur und Kultur mitgestaltete. Die haben sich über meine Projekte lustig gemacht und ich habe danach lange Abstand von den sozialen Medien gehalten. In dieser Zeit begann ich als Buchautorin über Blindheit und Sehbehinderung aufzuklären. Und ein Organisator wollte mich bei einer Lesung nicht auftreten lassen. Er akzeptierte nur Autor*innen, die selber lasen und ich hatte aufgrund meiner damals noch frischen Erblindung immer meine Vorleserin dabei. Wegen dieser Ablehnung fühlte ich mich wirklich diskriminiert. Wir hatten das in unserem dunkelbunten Leipziger Freundeskreis so noch nicht erlebt.

 

Ich bin auch heute zu Konzerten und Festivals überwiegend in Leipzig. Während der Pandemie hat mir das extrem gefehlt. Dieses Jahr durfte ich bereits Drangsal, Kraftklub, Kummer, Casper, The Cure und Blond erleben. Da ich nicht nur blind bin, sondern aufgrund einer Schmerzerkrankung nicht lange stehen kann, brauche ich bei Konzerten einen Stuhl. Mit dem Conne Island konnte ich das telefonisch abstimmen und bekam einen Sitzplatz. Ich war überglücklich, denn ohne die kleine Absprache hätte ich bei dieser reinen Stehveranstaltung nicht dabei sein können. Beim Highfield konnte ich online unter „Barrierefreiheit“ hilfreiche Details erfragen, was bei anderen Veranstaltenden oft nicht möglich ist. Viele denken nur in „Rollstuhl“ und das auch nicht differenziert. Ich möchte aber keinen wertvollen Rollstuhlplatz blockieren, sondern brauche einen Sitzplatz plus Freischaltung für meine Begleitperson. Auch die Parkplatz und Toilettensituation sind wichtig zu besprechen. Das Highfield ging hier super auf meine Art der Behinderung ein. Nur einmal kam bei mir die alte Pogo-Panik auf, als wir zur Behindertentribüne wollten und alle dicht an dicht standen (und mitunter auch schon ziemlich dicht waren). Ich hatte null optische Kontrolle und sah mich schon unfreiwillig in einer „Wall of death“. Die Leute haben nicht geschnallt, dass ich blind bin und wo ich hin will. Der Stock ist ja in den Massen schlecht zu sehen und meine Begleitung konnte sich bei dem Lärm und mit Klappstuhl unterm Arm schlecht verständlich machen. Hilfreich wäre, wenn der Zugang für behinderte Menschen, gerade im Dunkeln, von den Securities mitbetreut wird oder man sich direkt an jemanden wenden kann, wenn die Meute den Weg versperrt. Hier ist jede Location anders und hat ihre eigenen Tücken, wie auch jede Behinderung. Aber ich wurde mit großartigen Konzerten belohnt und ging am Ende inmitten der Menschen ganz in der Musik und in purem Glück auf. Veranstaltenden, die Menschen mit Behinderungen ein sicheres Konzerterlebnis ermöglichen wollen, lege ich die Initiative „Barrierefrei feiern“ ans Herz. 

Steckbrief:

 

Über mich: Ich bin Diplom-Sozialpädagogin, Fachjournalistin und Buchautorin. Als Inklusionsbotschafterin engagiere ich mich für eine barrierefreie Kunst- und Kulturlandschaft.

Mein*e Lieblingsartist*in:  Kraftklub, Casper, Kummer, Drangsal, Blond

Ich geh niemals feiern ohne: Eine sehende Begleitperson, der ich vertrauen kann und meinen Blindenlangstock (für den Führhund ist es bei Konzerten und Festivals zu laut)

Eine gelungene Nacht ist für mich: Eine Nacht, in der ich mich nicht aufgrund meiner Behinderung ausgegrenzt fühle oder Angst vor Übergriffen haben muss, eine Nacht ohne dumme Sprüche und Beklemmungen, weil jemand meinen Stock übersehen hat oder mich fehl am Platz findet

Meine Lieblingslocation oder Veranstaltung in Sachsen:

Locations: Conne Island, Moritzbastei, UT Connewitz, Werk 2  (auch wenn diese Orte Barrieren haben, halfen Kommunikation und Kreativität dabei, mir auch mit meinen Behinderungen Zugänge und Teilhabe zu ermöglichen, das ist großartig!)
Festivals: Wave-Gotik-Treffen und Highfield-Festival
Veranstaltungsreihe: Lesebühne “Schkeuditzer Kreuz”

Instagram: @paulchen_mit_frauchen

--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
"Wie wir die Nacht erleben" schreibt Geschichten, Eindrücke und Erfahrungen von Menschen mit diversen und intersektionalen Perspektiven aus dem Nachtleben. Das Nacht- bzw. Veranstaltungsleben kann sich dadurch auszeichnen, dass es ausgelassen, berauschend, verbindend, befreiend und vernetzend ist. Aber es kann auch ausschließend, diskriminierend und schmerzhaft sein. Mit diesen Erfahrungen gehen Menschen unterschiedlich um. Sie entwickeln (empowernde) Strategien oder müssen Konsequenzen für sich ziehen. Viele sind überzeugt, dass "so etwas" auf den eigenen Veranstaltungen nicht passiert. Doch diese vermeintlich individuellen Erfahrungen ziehen sich strukturell durch unsere Gesellschaft und sind auch im Veranstaltungskontext verankert.
Menschen, die (Mehrfach-)Diskriminierung erfahren müssen, teilen ihre Sicht auf das Nachtleben hier in literarischen Beiträgen und Erfahrungsberichten. Es sind vielschichtige Stimmen, die sichtbar und hörbar gemacht werden: Empowernd, wütend, über Gewalt und den einhergehenden Schmerz berichtend, sehnsüchtig, traurig, frei, laut und leise, hart und weich.
9 Autor*innen und/oder Künstler*innensind an dem Zine beteiligt. Wir haben sie gefragt, wie für sie eine gelungene Nacht aussieht, wann sie sich safe und stark fühlen. Aber auch, wie ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt oder Diskriminierung sind.
Sie sind Teil des sächsischen Nachtlebens - ob als Besuchende, Awareness, Security, Artists oder Organisator*innen. Am Tage und während der Nacht engagieren sich viele von ihnen gegen Diskriminierung. Manche von ihnen bleiben anonym, einige stellen sich unter ihren Beiträgen vor. Vielen Dank für eure Offenheit, euren Mut und eure Arbeit!
In Teilen werden in den Beiträgen kontroverse und komplexe Themen angesprochen. Dies geschieht sehr subjektiv und teilweise verkürzt, aber eben der erlebten Erfahrung entsprechend. Als Herausgeber*innen sehen wir es als unsere Aufgabe, diese Berichte unzensiert und ungefiltert  so stehen zu lassen, wie sie sind, und finden es wichtig, auch Kontroversen und Diskussionen Raum zu geben.
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Autor:in

Jennifer Sonntag (she/her)

Lesezeit

5 min

Datum

December 9, 2022

Link

Link

Mehr Infos